Was der Mauerrest erzählt
von Joachim Acker

Alle die meine Geschichten gelesen haben wissen inzwischen,
dass mein Lieblingsplatz der Mauerrest am Flußufer ist.
Dort, im Schatten des mächtigen Holunderbusches, verbrachte
ich schon manche Stunde. Pfeiferauchend natürlich, das versteht
sich, meistens in Gedanken versunken, manchmal fröhlich
und manches Mal auch voller Traurigkeit. Wie es halt so ist im
Leben das immer Höhen und Tiefen hat.
Es war ein schöner Platz zum Sitzen und Grübeln, ruhig
gelegen und direkt am Fluß der oftmals meine Gedanken mitnahm
auf seine weite Reise ins ferne Meer. Und es war ein sehr alter
Platz, die Chronik der Stadt erzählt, dass dieser Mauerrest,
grob zusammengefügt aus rohen unbehauenen Bruchsteinen,
das letzte Überbleibsel eines uralten Fährmannshauses
sei.
Auch heute führte mich mein Weg wieder dorthin. Der Tag
war lang gewesen und voller Mühsal, ich war müde und
die Beine schmerzten, aber ich wollte noch eine Weile in der
Ruhe und Stille meinen Gedanken nachhängen und dabei meine
Abendpfeife rauchen.
Ein leichter Wind kam auf, kräuselte das vorübertreibende
Wasser des Flusses und verwehte im Nu den Rauch meiner Pfeife.
Die Blätter des Busches raschelten, die Zweige bogen sich
im Rythmus des Windes. Ein Rotschwänzchen flatterte aufgeregt
vorbei, das keckernde Geschimpfe einer beleidigten Amsel war
zu hören. Sonst war eine große, tiefe Stille am Fluß.
Abendstille.
Mit einem Male hörte ich eine wispernde Stimme: "Hallo
mein Freund, bist du wieder da? Ich habe dich schon erwartet,
du warst lange weg". Ich brauchte eine ganze Weile bis ich
begriff, dass es der Mauerrest war der zu mir redete. Könnt
ihr euch, geneigte Leser, meine Verblüffung, mein Erstaunen
und meine Ungläubigkeit ob des Geschehens vorstellen?
"Seit wann kannst du, ein lebloser Mauerrest denn reden"
fragte ich. "Reden kann ich schon immer, aber ich mache
nur sehr selten davon Gebrauch. Nur dann, wenn einer dasitzt
mit dem es sich zu reden lohnt."
"Soll ich dir meine Geschichte erzählen" fragte
mich der Mauerrest. "Meine Überbleibsel werden langsam
brüchig und fallen immer mehr zusammen, bald wird es mich
vielleicht nicht mehr geben. Dann ist es gut wenn wenigstens
einer in der Stadt etwas von mir weiß."
Natürlich war ich damit einverstanden und dann hörte
ich still und meine Pfeife rauchend zu.
Und leise raunend, mit einer Stimme die wie von sehr weit
herkommend klang, begann der Mauerrest zu erzählen:
"Meine allerfrüheste Erinnerung ist dass ich einst
dort drüben am Berg, dort wo heute der große Steinbruch
ist, meine Heimat hatte, ich und alle meine Brüder die hier
zusammengefügt sind. Eines Tages kam ein Mann und lud uns
auf einen Karren, brachte uns hierher und baute in mühseliger
Arbeit eine kleine Hütte. Aus dem Holz der Bäume, die
er mit einer Axt fällte, fertigte er sich einen Kahn und
verdiente fortan sein Geld als Fährmann.
Glückliche Zeiten waren es, friedliche Tage an denen Händler,
weitgereist aus fernen Ländern am Ufer entlang zogen und
"Hol über, hol über" riefen wenn der Kahn
gerade am anderen Ufer war. Noch gerne erinnere ich mich an das
Lachen und Toben der Kinder die hier wohnten, an manches fröhliche
Fest.
Im Frühling bekam ich oftmals nasse Füße, da
trat der Fluß über die Ufer, schäumte und brauste
gewaltig, entwurzelte Bäume trieben dann an mir vorbei,
manchmal auch Hausrat oder eine ertrunkene Kuh, weggespühlt
von einer fernen Weide. Manchmal ergriff mich da die Angst, dass
ich weggeschwemmt würde, aber immer ging es gut aus.
Dort drüben, dort wo jetzt die Stadtmauer steht, entstand
im Laufe der Jahre eine kleine Siedlung, sie wuchs und gedieh,
wurde größer, wurde zur kleinen Stadt."
Der Mauerrest schwieg eine Weile, so als ob er Atem holen müßte.
Ich zündete meine inzwischen ausgegangene Pfeife aufs neue
an und wartete geduldig, bis die uralten Steine der Mauer wieder
zum reden beginnen.
" Als dann die Leute in der Stadt die Brücke bauten,
wurde es ruhig hier bei mir und am Fluß. Nun brauchte man
die Fähre nicht mehr und der Fährmann zog mit seiner
Familie weg.
Ja, es war still geworden hier bei mir. Im Dach begannen die
Vögel zu nisten, eine heimatlose Katze zog in die leerstehenden
Räume und der Garten, früher liebevoll gepflegt, begann
zu verwildern.
Aber irgendwann war dann diese friedliche Zeit vorbei. Die
Zeiten wurden unruhiger, immer öfter zogen Menschen die
wohl vor irgendetwas, vor irgendwem auf der Flucht waren mit
ihren Habseligkeiten hier vorüber, ihre Karren beladen mit
dem was sie retten konnten, was ihnen wichtig und wertvoll war.
Und dann kam eines Tages ein wilder Haufen den Fluß entlang
gezogen, Kriegsleute die aus aller Herren Länder zusammengeströmt
waren um gegen irgendeinen Feind zu kämpfen. Wilde, verwegene
Gesellen waren es, bunt gekleidet und bewaffnet mit allerlei
Kriegsgerät. Männer ohne Heimat, ohne Hoffnung und
auch ohne Zukunft. Dort drüben auf der Wiese lagerten sie
am Abend, lärmend und grölend um große Lagerfeuer
sitzend. Und ich fürchtete mich vor ihnen.
Die Stadt war wohl ihr Feind, ich habs bis heute noch nicht verstanden
warum. Aber es mußte wohl so gewesen sein, denn sie zerstörten
am kommenden Morgen die Häuser und brannten die Stadt nieder.
Rot wie Blut war damals der Himmel über der Stadt und dichte
Rauchwolken verwehte der Wind. Was mit den Menschen geschah,
die hier wohnten, sah ich nicht, aber ich hörte ihre Schreie
der tiefsten Todesnot, ihr Flehen um Gnade und Erbarmen. Schreie
die ich bis heute noch nicht vergessen habe. Ich wurde verschont,
zu klein und unbedeutend war ich für die Kriegsleute.
Wenn Steine weinen könnten, damals hätte ich geweint.
Geweint um die Stadt und die Menschen. Lange schon ist es vorbei,
aber vergessen habe ich es niemals, wie könnte auch sowas
jemals vergessen werden".
Der Mauerrest schwieg wieder und ich stopfte mir eine frische
Pfeife, zündete sie an und machte die ersten Züge.
Dann, nach einer Zeit des Schweigens, begann der Stein erneut
zu erzählen: "Der Zahn der Zeit begann nun an mir zu
nagen und langsam verfiel ich, zuerst stürzte das Dach ein,
dann so nach und nach die Mauern. Ich wurde zur Ruine und die
Menschen die sich nach langer Zeit wieder hier ansiedelten, holten
meine Reste und verwendeten sie für ihre eigenen Häuser.
Irgendwann bekam ich dann Gesellschaft, es siedelte sich bei
mir ein Holunderbusch an und seitdem sind wir beide unzertrennlich.
Und ab und zu kommt ein menschliches Wesen hier her und setzt
sich auf mich, raucht einen seltsam riechenden Tabak in seiner
Pfeife und verpestet die Luft dabei".
Der Mauerrest verstummte, es war wohl alles gesagt was er mir
sagen wollte. Sooft ich in der Zukunft noch hier saß, er
hat nie wieder mit mir gesprochen. Und mir war es so als sei
der Mauerrest nur deshalb zum Leben erwacht, um mir seine Geschichte
zu erzählen damit sie nicht vergessen wird.
Eine Hand rüttelte mich an der Schulter, verwirrt schaute
ich auf, rieb mir die Augen. Der Schaufler wars, der mich da
unsanft in die Wirklichkeit zurückholte. "Komm",
sagte er zu mir, "laß uns in den Drachen gehen und
sehen, was unsere Freunde treiben".
Im Gehen schaute ich mich nochmals zum Mauerrest um, eine Amsel
setzte sich gerade auf die Steine und begann ihr Gefieder zu
putzen.
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